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Wie eine 33-jährige Frau ihre beiden Töchter absichtlich tötete, durch alle Raster staatlicher Ermittlung fiel – und sich am Ende selbst verriet

Von Sabine Rückert

Immer wieder gab es Momente, in denen der Tod von Diana und Louisa hätte verhindert werden können. Einem aufmerksamen Auge wäre die Gefahr nicht entgangen. Aber im Umfeld der Marion K. gab es wenig Aufmerksamkeit. Im Abstand von neun Monaten hat Marion K. ihre beiden kleinen Töchter umgebracht, erst das Baby, dann die größere. Sie hat die Taten gestanden. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Düsseldorf macht die 33-Jährige, wie sie da neben ihrer graumähnigen Anwältin kauert, einen ganz unspektakulären Eindruck. Man könnte sie für eine Verkäuferin im Supermarkt halten. Niemand käme darauf, die Abgründe, von denen im Prozess die Rede ist, mit einer derart harmlosen Erscheinung in Verbindung zu bringen. So ist das häufig bei Frauen, die angeklagt sind, ihre Kinder auf grausame Weise ermordet zu haben: Das Prozesspublikum erwartet eine Unholdin, und auf der Anklagebank sitzt ein armes Weib.

Der Einzige, der alles kommen sah, war der Nigerianer Sunday C., der ehemalige Lebensgefährte von Marion K. Die erstgeborene Tochter Diana ist sein Kind. 2002 zieht er mit Marion zusammen, schon bald fürchtet er um das Baby. Pausenlos alarmiert er telefonisch Marions Eltern: Sie lässt die Kleine hungern, klagt er. Sie lässt sie allein auf dem Wickeltisch liegen, sie liebt das Kind nicht, man muss was unternehmen. Marions Eltern glauben ihm nicht. Sunday ist schwarz, er will Asyl, vielleicht deshalb. Am 12. Januar 2003 entgleist die Beziehung. Wieder geht es um Marions Umgang mit dem Kind. Zwischen den jungen Eltern kommt es zu einer hasserfüllten Auseinandersetzung, an deren Ende Marion K. droht, sie werde das Gas aufdrehen. Aus Angst um sein kleines Mädchen ruft Sunday nach der Polizei. Beamte rücken an, sehen aber eher im aufgewühlten Sunday das Problem. »Der ist verrückt«, sagt Marion K. ruhig, und die Polizisten glauben ihr. Sunday kann sich nicht ausweisen und ist illegal in Nordrhein-Westfalen. Er wird der Wohnung verwiesen. Am Rande des Nervenzusammenbruchs reißt der Nigerianer seine acht Monate alte Tochter an sich. Er nimmt ein Messer und droht: »I am killing me and the baby, if the police doesn’t let us go!« Diese Verzweiflungstat wird Sunday C. zum Verhängnis. Er wird festgenommen und am 5. Februar 2003 nach Afrika abgeschoben. Damit war der einzige Mensch, der wusste, wie es um Marion K. steht und der auf die von ihr ausgehende Gefahr hingewiesen hatte, dank staatlicher Maßnahmen aus dem Weg geräumt. Marion K. war froh darüber, und die kleine Diana bleibt mit ihrer Mutter allein zurück. Sie hat noch anderthalb Jahre zu leben.

Im Oktober 2003 bekommt Marion K. ein zweites Kind, wieder ein farbiges Mädchen. Die Geburt kommt überraschend, niemand hat gewusst, dass Marion wieder schwanger war. Auch sie selbst habe ihren Zustand nicht wahrhaben wollen, sagt die Angeklagte. Sie habe Alkohol getrunken, nicht ein einziges Mal den Frauenarzt aufgesucht und ihre Leibesfülle der Umwelt mit angeblicher Fresslust erklärt. Die Geburt vollzieht sie zu Hause auf dem Teppich, Marion K. fühlt sich währenddessen »abwesend«. Sie habe es geschehen lassen. Hinterher ruft sie den Rettungswagen. Die Ärzte fragen: Wer ist der Vater? Wo ist der Mutterpass? Dass beides fehlt, dass keine Windel, kein Strampler und schon gar kein Kinderwagen da ist, veranlasst keinen von ihnen zu Nachfragen. Sie nehmen die blutende Mutter und das unterkühlte Kind mit in die Klinik. Marion K. möchte das Neugeborene sofort zur Adoption freigeben. Doch Helmut K., ihr Vater, will davon nichts hören. »Die wird behalten und erzogen«, bestimmt er. Also macht Marion die Adoptionsfreigabe rückgängig. Dem väterlichen Willen hält sie nicht stand. »Ich war ganz allein«, versucht sie zu erklären. Als sie mit Louisa heimgeht, hat das Kind noch drei Wochen zu leben.

Marion K. schont sich nicht, als sie den Tod der Kinder schildert. Zuerst trifft es Louisa, weil sie die ganze Zeit nach ihrer Mutter schreit. Nur auf dem Arm ist Ruhe, diese Nähe aber kann Frau K. nicht ertragen. In den frühen Morgenstunden des 8. November 2003 füttert sie den quäkenden Säugling, als sie ihn hinlegt, fängt er wieder an. »Da hat es klick gemacht«, sagt Marion K., es folgt eine lange Pause. Dann berichtet sie alles: Sie dreht das Baby auf den Bauch und türmt zwei Decken, mehrfach zu einem »Klumpen« gefaltet, auf den kindlichen Kopf. Sie achtet darauf, dass die Atemöffnungen verlegt sind, trotzdem dauert es über zwei Stunden, bis Louisas Schreie endlich leiser werden und verstummen. Marion K. liegt daneben im Bett, hört ihrem Kind beim Sterben zu und nickt dabei hin und wieder ein. Gegen vier Uhr herrscht Stille. Sie räumt die Decken ab, Louisa ist steif, verschwitzt und tot. »Ich rief den Notarzt und gab mich als erstaunte Mutter aus, die aus heiterem Himmel ihr Kind verloren hat«. – »Was fühlten Sie, als Sie den Tod des Kindes feststellten?«, will der Vorsitzende wissen. »Erleichterung.« Dass Louisa keines natürlichen Todes starb, bleibt unbemerkt. Weder bei der Polizei noch bei der Gerichtsmedizin kommt ein Verdacht auf. Am kindlichen Leichnam sind – wie das beim Ersticken häufiger vorkommt – keinerlei Auffälligkeiten zu erkennen, deshalb rutscht die Tötung als plötzlicher Kindstod durch alle Raster staatlicher Ermittlung.

Vater der verstorbenen Louisa war der Lagerist Emenike E., ebenfalls Nigerianer und ein guter Freund von Sunday. Noch während der in Abschiebehaft saß, wurde er zum neuen Liebhaber der Marion K. Sie sagt, er habe nach der Geburt des Kindes keinerlei Anstalten gemacht, sich von seiner deutschen Frau zu trennen und bei ihr zu bleiben. »Er war wieder bloß ein Afrikaner, der nicht zu mir hält«, stellt die Angeklagte fest und wischt sich die Augen. Der Gescholtene hat die Sache allerdings anders in Erinnerung. Marion habe ihm nie auch nur angedeutet, dass er Louisas Vater sein könnte, beteuert Emenike E. als Zeuge. Er hätte sich darüber gefreut, denn er sei kinderlos und werde bald 40: »In Afrika hat man in diesem Alter neun bis zwölf Kinder.« Auch über eine Ehe mit Marion habe er kein Wort verloren. Sie habe nämlich noch Beziehungen zu zwei Kenianern gepflegt. Nie habe er gewusst, woran er bei ihr ist. »Was ihr auf der Seele brannte, sprach sie nicht aus«, sagt E., »sie hat mir nicht erlaubt, ihr nahe zu sein.« Von Louisas Tod wurde Emenike E. nur kurz und kalt informiert, danach war Marions Handy abgestellt. Später habe sie noch einmal angerufen und ihn gebeten zu kommen. Er habe geklingelt, aber niemand habe geöffnet, obwohl in der Wohnung Licht brannte und er Marion durchs Fenster sehen konnte. »Da habe ich mich gefragt«, sagt E., »ob sie vielleicht ein psychologisches Problem hat.«

Sie erdrosselt ihr Kind, »um dem Übel ein Ende zu bereiten«

Nach Louisas Tod schöpft die Mutter Hoffnung. Vor der Isolation rettet sie sich zu ihren Eltern. Fast jeden Tag kommt Frau K. jetzt mit Diana zu Besuch, andere Ansprechpartner oder Freunde hat sie nicht. Sie lebt von Sozialhilfe und weiß, dass auch die eigenen Eltern nichts von ihr halten. Deshalb hat sie selbst vor ihnen die zweite Schwangerschaft verheimlicht. Ihrer Mutter, sagt Marion K., könne man nichts anvertrauen, die erzähle alles in der Nachbarschaft herum und gebe viel auf die Meinung fremder Leute. Ihr Vater habe sich vor allem abwertend über seine Tochter geäußert: »Du taugst nix, du bist nix, du bist eine Null.« Und später habe es geheißen: »Du bist zu dick für einen deutschen Mann, höchstens die Schwarzen stehen da drauf.« Auch von den schwarzen Babys seien die Großeltern anfangs wenig begeistert gewesen, hätten sich aber schließlich an sie gewöhnt.

Deshalb gibt Marion K. die zweieinhalbjährige Diana in die Obhut von Oma und Opa, als sie im Juli 2004 wieder arbeiten geht. Über eine Zeitarbeitsfirma hat sie einen Job in einer Parfümfabrik ergattert. Dort stöpselt sie Flakons zu, und es macht ihr Freude. Sie ist wieder unter Menschen, es geht aufwärts. Doch schon nach vier Tagen wird den Großeltern die Belastung durch die Enkelin zu viel. Und nach neun Tagen wird Marion K. gekündigt: Ihre Firma wird ins Ausland verlegt. Der Vater glaubt das nicht, er hält die Sache mit dem Firmenumzug für eine faule Ausrede seiner faulen Tochter. Es kommt zum Krach. Niedergeschmettert vom Rausschmiss, habe ihr dieser ungerechte Vorwurf den Rest gegeben, sagt Marion K. Sie verlässt ihr Elternhaus und bricht damit ihren letzten sozialen Kontakt ab. Zwei Wochen lang verlässt sie ihre Wohnung nicht. Der Haushalt verkommt, sie selbst liegt im Bett und starrt an die Decke. Anfangs kümmert sie sich noch um Diana, doch am Morgen des 5. August 2004 stellt sie auch die Versorgung des Kindes ein. »Ich ließ es einfach liegen und tat, als sei es nicht da«, sagt Marion K. Diana wird nicht mehr gewickelt, nicht mehr gefüttert, sie bleibt eingesperrt in ihrem Gitterbett und ruft nach der Mama. Sie ruft und ruft, aber niemand kommt. Nach zwei Tagen kann Marion K. es nicht mehr hören, sie bringt Diana ein Fläschchen. Das Kind liegt »sehr, sehr schwach« im Bettchen, trinkt hastig und erbricht. Da nimmt Marion K. ein Tuch, rollt es auf und drosselt das Kind, »um dem Übel ein Ende zu machen«. – »Was war denn das Übel?«, unterbricht der Vorsitzende. »Das Übel war, dass sie noch nicht tot war.«

Zehn Minuten drosselt die Mutter ihr Kind, »es war eine Ewigkeit«, dann wird die Gegenwehr schwächer, und Marion K. lässt los. Doch das kleine Mädchen lebt noch. Zwei Stunden liegt es in seinem Bett und röchelt. Nebenan sitzt die Mutter vor dem Fernsehapparat, bloß manchmal schaut sie nach, ob der Tod schon da ist. Als der Pulsschlag erloschen ist, schreibt sie in den Kalender unter das Datum vom 7. August 2004: »Diana 7.30 Uhr verstorben«. Erst abends ruft sie die Polizei. Die Beamten finden keine haareraufende Mutter vor, sondern eine »sehr abgeklärte«, manchmal in sich hineinlachende Frau. Es sei schon das zweite Kind, sagt sie, auch beim ersten habe man nichts feststellen können. Tatsächlich finden sich an der Kinderleiche keine Gewaltspuren. Trotzdem, sagen die Polizisten, hätten sie das Gefühl gehabt: »Da stimmt was nicht.« Die ganze Wohnung sei von fast klinischer Sauberkeit gewesen, keine Hose hing überm Stuhl, die Teddys saßen wie arrangiert, der Teppich war so rigoros gestaubsaugt, dass die Schuhe der Beamten Spuren hinterließen. Dazwischen die frisch geduschte Mutter, von der eine gespenstische Gelassenheit ausging.

Auch die Obduktion der Diana bringt keine Klarheit. Die Rechtsmediziner entdecken zwar ein paar winzige Einblutungen an der Schläfe und im Augenweiß, aber kein Zeichen von Gewalt. Die Angaben der Mutter, Diana habe beim Fläschchengeben geröchelt und dann das Bewusstsein verloren, können nicht widerlegt werden. Fast wäre die Rechnung der Marion K. – die sich durch reibungslose Beseitigung Louisas ermutigt fühlte, auch die größere Tochter umzubringen – aufgegangen. Fast wäre sie davongekommen.

Ihre Anwältin argumentiert gegen den Mordvorwurf– mit Erfolg

Dass sie nicht davonkommt, dafür sorgt sie selbst. Als Kriminalbeamte Marion K. vernehmen und auf Widersprüche in ihrer Aussage hinweisen, sagt sie nicht: »Ich schweige«, auch nicht: »Ich will einen Anwalt.« Sie gesteht. Ohne Tränen, ohne Zeichen der Reue beichtet sie ihre schrecklichen Taten, die ihr niemand hätte nachweisen können. Doch zum ersten Mal seit langer Zeit haben sich Menschen – und sei es auch aus professionellen Gründen – ihr zugewandt, reden mit ihr, interessieren sich für sie, sind ein klein wenig nett.

Eher aus Versehen und auf Nachfragen der Richter und Gutachter hin rutscht dem Vater am Rande seiner Generalabrechnung doch einiges über das traurige Leben der Angeklagten heraus: Marion K. wächst unter der Obhut einer schwer depressiven Mutter auf, die tagelang ihr abgedunkeltes Zimmer nicht verlässt. Später verschwindet die Frau regelmäßig über Wochen in der Psychiatrie, das Kind bleibt sich selbst überlassen. »An wen wandte sich Ihre Tochter, wenn sie Kummer hatte?«, will der psychiatrische Sachverständige vom Vater wissen. »Kummer?«, fragt der zurück, als sei das ein Wort aus dem Arabischen. Marion fängt an, sich voll zu stopfen, wird unförmig, sie vereinsamt, niemand spielt mit ihr, auf dem Schulhof steht sie immer allein. Noch als Zehnjährige nässt sie ein, sie lügt, stiehlt, verkriecht sich, beim nichtigsten Anlass bekommt sie Tobsuchtsanfälle. Wenn die Tochter herumschreit, schließen die Eltern die Fenster, wegen der Nachbarn. Dass das Kind professioneller Hilfe bedarf, sieht niemand.

Mit 13 Jahren hat Marion ihren ersten Freund, einen Bangladescher, den sie später fälschlich der Vergewaltigung bezichtigt. Danach wechseln sich die Männer ab, kaum eine Beziehung hält länger als sechs Wochen. Obwohl Marion normal intelligent ist, scheitert sie auch beruflich dauernd. Fast jede Stelle wird ihr gekündigt, weil sie unzuverlässig ist oder in die Kasse greift. »Auch das mit Sunday ist erwartungsgemäß schief gegangen«, konstatiert der Vater, mit »Tochter Marion« könne es eben keiner aushalten. Und nun auch noch zwei tote Enkel. Die Eltern haben ihrer Tochter ins Gefängnis geschrieben: »Von deiner Familie hast du nichts mehr zu erwarten. Deine Enterbung haben wir eingeleitet.« Die Angeklagte sitzt reglos im Hagelschlag der Worte, nur hin und wieder schnäuzt sie sich. Es scheint, als sei sie das alles gewohnt. »Ich hatte immer nur meine Eltern«, hat sie dem Gericht zuvor gesagt, »dass ich die jetzt verloren habe, ist für mich das Schlimmste.«

Der Düsseldorfer Nerverarzt Martin Platzek hat die Angeklagte auführlich untersucht und eine kranke Seele gefunden. Marion K., sagt er, leide unter einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, einer Krankheit, die zwischen hochgradiger Neurose und Psychose angesiedelt ist. Früher habe man solche Menschen als »haltlos« oder »sozial schwachsinnig« bezeichnet. In der Angeklagten herrsche eine Wüste aus Sprachlosigkeit und quälender Gefühlsleere, die sie allein durch selbst gemachte Kicks wie Diebstähle oder oberflächliche Sexualerlebnisse ertragen könne. Die Existenz der beiden Kinder habe Marion K. daran gehindert, mit Hilfe der bewährten Strategien weiter zu überleben. Unter den Mutterpflichten sei ihr mühsames Konstrukt der inneren Stabilisierung zusammengebrochen. Deshalb sei die Mutterschaft für Frau K. nichts anderes gewesen als ein »völlig unerträglicher Zustand«, sagt der Sachverständige, und der Tod der Kinder die »Lösung eines schwerwiegenden Problems«.

Die Anwältin Silvia Oster argumentiert in ihrem Plädoyer gegen den Mordvorwurf. Das Strafmaß orientiere sich an der Schuld eines Täters, sagt sie, ihre Mandantin aber sei keine berechnende Mörderin, sondern eine kranke und sehr einsame Frau. Die Tat, sagt Oster, sei eine »lange absehbare Katastrophe« gewesen. Am 15.April 2005 verurteilt das Landgericht Düsseldorf die Angeklagte wegen Totschlags in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Ein faires Urteil. Und ein weitsichtiges. Marion K. wird keine Kinder mehr bekommen können, wenn sie dereinst entlassen wird.

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