Weibliches Sex(er)leben

Die Berliner Charité hat das Sexleben von Frauen unter die Lupe genommen. Die Befragung räumt mit gängigen Vorurteilen auf, beispielsweise dem Mythos vom vaginalen Orgasmus.

23 Seiten Papier bringen Licht ins Sexleben der Frauen in Deutschland. Die Charité Berlin veröffentlichte jetzt die Ergebnisse einer Umfrage mit 575 Frauen zwischen 17 bis 71 Jahren. "Wir haben die Fragebögen in ganz Deutschland an Orten wie Arztpraxen, Friseursalons und Universitäten verteilt", berichtet Studienleiterin Dr. Sabine Grüsser-Sinopoli vom Institut für Medizinische Psychologie. Die Befragten lebten zu 74 Prozent in einer festen Partnerschaft, acht Prozent hatten eine offene Beziehung und 17 Prozent keinen Partner. Bei der Befragung gab es keine Tabus, Grüsser-Sinopoli sagt: "Es handelt sich hier um eine der detailliertesten Umfragen zum weiblichen Sexualerleben, die je in Deutschland gemacht wurde."
Erster Orgasmus durch Masturbation
Demnach erleben die Frauen ihren ersten Orgasmus im Schnitt mit 16 Jahren, die meisten - nämlich 50 Prozent - bei der Masturbation. Beim Geschlechtsverkehr mit einem Mann kamen 26 Prozent der Befragten erstmals zum Höhepunkt, 15 Prozent genossen ihren ersten Orgasmus in den Armen eines Mannes beim Sex ohne Penetration. Die durchschnittliche Dauer bis zum Orgasmus, so schätzen die Befragten, beträgt acht Minuten. 56,9 Prozent der Frauen gaben an, mehrere Orgasmen ("multipler Orgasmus") beim Geschlechtsverkehr zu erleben. Das durchschnittliche Alter beim ersten heterosexuellen Verkehr lag bei 17 Jahren, die Anzahl der Sexualpartner reichte laut Umfrage von Null bis 80. Im Schnitt kam jede Frau damit auf acht Sexualpartner.
Der Mythos vom vaginalen Orgasmus
Während es also den multiplen Orgasmus häufig gibt, räumt die Studie mit einem anderen Mythos auf: dem "erdbebengleichen" vaginalen Orgasmus. Nur wenige Frauen unterscheiden überhaupt zwischen einem klitoralen und vaginalen Orgasmus. Frauen betrachten beide Begriffe eher "technisch": Der klitorale Höhepunkt werde durch direkte Stimulation der Klitoris herbeigeführt, der vaginale dagegen durch Penetration der Vagina. "Die Erlebnisqualität ist in den Augen der meisten Frauen jedoch nur minimal different", fasst die Diplom-Psychologin Anja Lehmann vom Institut für Medizinische Psychologie zusammen. "Der klitorale Orgasmus wird - wenn überhaupt - als punktueller und daher intensiver erlebt, der vaginale eher ganzheitlich-diffus."
Die Intensität des Orgasmus hängt nicht davon ab, ob er durch Selbstbefriedigung, Streicheln oder Geschlechtsverkehr zustande kommt. "Letztlich geht jeder Orgasmus von der Stimulation der Klitoris aus", so Grüsser-Sonopoli. Ohne diese sei ein Orgasmus fast nicht möglich.
Vorgetäuscht - dem Partner zuliebe ...
Und wie steht es mit der Wahrhaftigkeit? 90 Prozent der befragten Frauen gaben an, ihrem Partner schon einmal einen Orgasmus vorgetäuscht zu haben. Zehn Prozent davon spielten ihrem Partner mehr als einmal Theater vor. "Es handelt sich hier offenbar um kein regelmäßiges Verhalten", glaubt Grüsser-Sinopoli. Klar ist: Wenn Frauen einen Höhepunkt vortäuschen, dann tun sie es ihrem Partner zuliebe. So wollen 41 Prozent ihren Partner damit bestätigen, 25 Prozent den Orgasmus des Partners beschleunigen, 15,9 Prozent meinen, "es" ihrem Partner schuldig zu sein und 14,7 Prozent trauen sich nicht, ihrem Partner zu sagen, dass sie keinen Orgasmus hatten.
Partner: Note "gut"
Ihr Sexualerleben betrachten Frauen vorrangig unter partnerschaftlichen Aspekten. So finden sie die These "Wenn ich nicht zum Orgasmus komme, liegt es eher an meinem Partner als an mir" nur zu 36 Prozent zutreffend. Sie delegieren die Verantwortung also nicht an ihre Partner. Auch die Befriedigung beim Sex wollen sie nicht unbedingt mit einem Orgasmus gleichsetzen. Nur 36 Prozent finden diese Annahme richtig. Den meisten Frauen ist der gemeinsame Orgasmus mit dem Partner wichtig.
Die allgemeine Zufriedenheit mit ihrem partnerschaftlichen Sexualleben bewerten die Frauen immerhin mit 72 von 100 erreichbaren Punkten. Ihren Partnern stellen sie ein gutes Zeugnis aus: Auf die Frage nach dem Interesse des Partners an ihren sexuellen Wünschen und seiner Bereitschaft, sich an ihren Bedürfnissen zu orientieren, vergeben die Frauen im Durchschnitt 75 von 100 möglichen Zählern. 70 Prozent der Befragten erklärten, ein-bis zweimal pro Woche mit ihrem Partner zu schlafen. Nach einer Schwangerschaft empfinden die Frauen ihr Sexualerleben stärker beeinträchtigt als das ihres Partners.
Sex-Faktoren: Geruch und Stimmung
Welche Faktoren beeinflussen das weibliche Orgasmuserleben? Der Umfrage zufolge steht der Geruch des Partners ganz oben auf der Hitliste, gefolgt von der Stimmung, Hygiene des Partners, Klitorisstimulation und Sicherheit vor Krankheiten. Weit vorne liegen auch die Faktoren "Offenheit" und "Vertrauen". Attraktivität des Partners, Verliebtsein oder Erfahrung des Partners belegen hingegen nur mittlere Plätze beim Ranking der Sex-Faktoren. Auch die "Länge des Penis" spielt nur eine nachgeordnete Rolle und rangiert gleichauf mit "dirty talk" und Sex in der Öffentlichkeit.
"Der weibliche Orgasmus ist in erster Linie eine Stimmungsangelegenheit, eine Frage des Sich-Einlassens", fasst Lehmann zusammen. Die Zufriedenheit mit dem Sexualerleben habe weniger mit dem Orgasmus oder der Partneranzahl zu tun, sondern mit Vertrauen und Kommunikation. "Weibliche Sexualität ist komplex, eine einfache Handlungsanweisung gibt es nicht", so Lehmann.
Erst hetero, dann homo
Zwar verfügen nur 105 der Befragten über gleichgeschlechtliche Sexualerfahrungen, bei diesen steht jedoch fest: Frau kommt mit Frau häufiger zum Orgasmus. So gaben die Befragten an, mit 50 Prozent ihrer bisherigen männlichen Sexualpartner einen Orgasmus erlebt zu haben - bei den Sexualpartnerinnen lag diese Quote bei 75 Prozent. Frauen machen in der Regel zu einem späteren Lebenszeitpunkt intime Bekanntschaft mit Frauen als mit Männern. Während der erste heterosexuelle Geschlechtsverkehr im Schnitt mit 17 Jahren erlebt wird, folgt die erste gleichgeschlechtliche Erfahrung mit 21 Jahren.
Selbstbefriedigung, na klar
Die Mehrheit der Frauen kennt den eigenen Körper sehr gut. So gaben 77,8 Prozent der Befragten an, sich selbst zu befriedigen - wobei Phantasien wichtig sind und die Rückenlage bevorzugt wird. Frauen kommen bei der Selbstbefriedigung auch nicht immer zum Orgasmus - dies geschieht in 80 Prozent der Fälle. Das Durchschnittsalter für den Beginn der Selbstbefriedigung liegt bei 14,3 Jahren. Als erstaunliches Ergebnis wertet Grüsser-Sinopoli die Tatsache, dass 18 Prozent der Befragten zum Thema Selbstbefriedigung keine Angaben machten. "Trotz der allgegenwärtigen Sexualisierung unserer Gesellschaft ist Masturbation offenbar für einen größeren Teil der Frauen immer noch ein Tabu."